Als ich heute mein Poesiealbum angeschaut habe, (ich fand das Motiv ja damals so cool, so elegant mit Freund wollte ich später auch durch die Welt gehen; damals war ich aber erst 11. Hier seht Ihr auch die Mode der 70er: er trug einen lässigen langen Mangel, Rollkragenpullover und Schlaghose, dazu die Haare länger. Sie hatte ein Barett auf den langen Haaren, trug einen Minirock und die Jacke hatte einen großen Kragen. Dazu eine Schultertasche aus Leder. Das war damals schick und modern.
Vorne auf die erste Seite kam erstmal ein Spruch von mir. Kommasetzung konnte ich wohl noch nicht - und malen auch nicht.
Die ersten zwei Seiten waren für meine Eltern. Jeder hat mir einen Spruch eingeschrieben. Meine beiden Eltern sind schon tot, um so mehr berührt es mich, ihre Schrift zu sehen.
Danach kamen die 3 Geschwister. Der Spruch, den meine 4 Jahre ältere Schwester gewählt hat, passt auch zu ihr. Sie ist ein optimistischer Mensch und wollte mir diese Botschaft wohl weitervermitteln. Und links im Bild hat sie tränende Herzen gemalt. Das sind ihre Lieblingsblumen bis heute.
Nach der Familie kamen die Freundinnen ... Wenn man die Sprüche mit ihren Lebensläufen betrachtet, gibt einem das zu denken. Wussten die Schreiber schon um den tieferen Sinn ihrer Worte?
Hier z. B. meine Freundin Simone, sie hat diesen Spruch mit "die Liebe muss warten ..." gewählt. Sie war die erste in der Klasse, die schwanger war. Das war in der 9. oder 10. Klasse. Sie bekam 5 Kinder und war wegen Scheidung alleinerziehend. Der Hinweis in dem Spruch galt wohl mehr ihr selber.
Meine Freundin Marion, die war immer (angriffs-)lustig und kämpfte verbissen, wenn sie sich im Recht sah. Ihren Humor sah man im Spruch auf der rechten Seite. Links kam der Wunsch, dass ich gesund bleiben möge. Ganz groß und fett und rot geschrieben, weil sie wohl damals schon wusste, wie wichtig das war. Sie ist leider früh an Krebs erkrankt und verstorben, so wie ihre Mutter und die beiden Schwestern. Ihre aufgesetzte Fröhlichkeit war vielleicht ihre Art, das Leben schnell und energisch zu leben, bevor es vorbei ist.
Auffallend viele damals ja kindliche oder jugendliche Schreiben haben Sprüche reingeschrieben, die mit der Vergänglichkeit der Jugend zu tun hatten. Alle ahnten wohl, dass man nicht ewig jung ist, und dass man sich später nur daran erinnern kann. Heute muss man leben und genießen. Das gilt ja fürs ganze Leben, aber die Schreiben haben es damals im Unterbewusstsein gespürt und mich im Poesiealbum darauf hingewiesen.
Irgendwann kamen auch die Lehrer. Die schrieben immer kluge Zitaten von Schriftstellern rein. Die hatten meistens mit dem Lernen und Streben zu tun. Hier der Eintrag meiner Lieblingslehrerin. Damals fand ich ihn sicherlich langweilig und nichtssagend. Aber heute kann ich erst beurteilen, ob er wahr ist oder nicht.
Manche schrieben auch lange Gedichte rein. Auch das war damals nicht so nach meinem Geschmack. Aus heutiger Sicht kann man das durchaus nochmal lesen und darüber nachdenken.
Zum Schmücken der Einträge hatten viele was gemalt oder Poesiebilder eingeklebt, und sogar mehrere Kaugummibilder kann ich vorweisen. Jeder hat das so gestaltet, wie er es schön fand.
Oft kam auch das Thema Eltern und Elternhaus vor. Der Wert der Kindheit, der Wert einer Familie und des Elternhauses. Auch das erschien uns damals selbstverständlich. Heute wissen wir, dass es das nicht ist.
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Schade, dass diese Tradition mit den Poesiealben nicht mehr in Mode ist. Die heutigen vorgedruckten Bücher, wo man nur noch Daten einträgt, hat nicht das gleiche Potenzial, um später zu den besonderen Erinnerungsstücken zu werden.
Liebe Grüße Ina