Das besondere Tuch
Viele von uns haben schon Tücher gestrickt oder gehäkelt, sie selbst getragen oder verschenkt. Bei den verschenkten Tüchern erfährt man in der Regel nichts mehr darüber, ob sie gern getragen, geliebt oder vielleicht dauerhaft im Schrank verschwinden. Anders bei diesem besonderen Tuch: eine wahre Geschichte, allerdings mit erfundenen Namen:
Meine Arbeitskollegin Sabine*, wir haben viele Jahre zusammengearbeitet und sind darüber Freunde geworden, liebt Katzen über alles. Sie wollte nie eine Wohnungskatze haben, aber in einem Sommerurlaub an der Ostsee lief ihr ein herrenloses kleines Kätzchen ständig hinterher und miaute herzzerreißend. Einmal gestreichelt und mit ihr gespielt, wich die kleine Katze ihr nicht mehr
von der Seite. Der Urlaub näherte sich dem Ende – und Sabine* brachte es nicht übers Herz, das Kätzchen sich selbst und seinem ungewissen Schicksal zu überlassen. Also hatte sie fortan einen kleinen Kater namens Paulchen*.
Paulchen* zog in ihre Wohnung ein und hatte ein schönes Leben. Er bekam das beste Futter, ein von mir gefilztes Katzenkörbchen, Pfefferminze aus dem Garten und jeden Tag Streicheleinheiten. Schöner wohl könnte eine Wohnungskatze nicht leben, denke ich.
Der Lieblingsplatz der beiden war ein bequemer Ohrensessel, wo man drin versinken konnte. Sabine* saß gern eingekuschelt im Sessel und las ein gutes Buch (ihre zweite Leidenschaft). Auf dem Schoß lag wohlig schnurrend Paulchen* und ließ sich das Fell kraulen.
Sabine* hat leider eine unheilbare Krankheit, bei der man ständig Schmerzen an unterschiedlichen Stellen des Körpers hat. Ein Mittel, die Schmerzen zu lindern, ist Wärme. Deshalb trug sie immer Strickjacken und Tücher. Allerdings halfen die nie gegen die empfundene Kälte, weil sie aus Baumwolle oder aus synthetischen Stoffen waren. Egal wie kuschelig die Sachen aussahen, sie wärmten eben einfach nicht.
Und weil ich weiß, dass nur echte Wolle wärmt, habe ich ihr ein Tuch aus Wolle gestrickt. Da sie sehr hautempfindlich ist, kam leider keine „normale 0815-Wolle“ in Betracht. Ihre Wolle durfte auf keinen Fall pieksen. Deshalb habe ich meine weichste Wolle mit zur Arbeit genommen und sie musste eine
ausgiebige Fühlprobe machen. Die Kaschmirwolle bestand die Prüfung. Sabine* meinte: „Davon wünsche ich mir einen Ganzkörperanzug."
Diesen Wunsch konnte ich ihr natürlich nicht erfüllen. Aber ich habe ihr zum Geburtstag im Frühjahr 2015 aus meinen verschiedenfarbigen Kaschmir-Resten ein großes Tuch gestrickt - wunderbar leicht und weich und wärmend, ein richtiges Luxustuch.
Ihr werdet jetzt denken, oh Gott, was mag das gekostet haben? Ja, es stimmt, Kaschmirwolle ist sehr teuer und so ein Tuch, das frisst ganz schön Material. Aber Sabine* ist ein besonderer Mensch und war mir das Geschenk wert. Ob ich nun 4 einzelne Lace-Tücher für 4 verschiedene Menschen mache, die es nur schön finden, oder ein ganz Besonderes, was speziell diesen einen Menschen glücklich macht. Manchmal geht es auch nicht anders, da muss man einfach auf sein Herz hören.
Sabine* hat sich über das Geschenk riesig gefreut und nahm das Tuch freudestrahlend mit nach Hause (für die Arbeit war es ihr zu schade, sie wollte es Zuhause genießen). Jeden Tag lag es nun auf ihrem Lieblingssessel und wartete am Feierabend zusammen mit der Katze auf sie. Auch Paulchen hatte erkannt, dass es nichts Weicheres in dieser Wohnung gab :-) Fortan war der Lieblingsplatz der Katze – solange Frauchen außer Haus war – auf dem Tuch.
Leider ist die 14 Jahre alte Katze in diesem Jahr überraschend gestorben. Sabine* war natürlich sehr sehr traurig.
Später kamen wir durch Zufall mal auf das Tuch zu sprechen. Ich wollte wissen, ob es ihre Schmerzen immer noch lindert und ihr gut tut. Sie druckste ein bisschen herum und sagte dann, dass das Tuch seit dem Tod der Katze nur noch im Schrank liegt. Immer wenn sie es sieht, muss sie an ihr Paulchen* denken. Die Erinnerung schmerzt sie zu sehr.
Nun kann ich so ein Tuch leider nicht noch einmal stricken – das war ein einmaliges Stück. Es hat 4 Jahre lang Sabine und ihrer Katze das Leben wohliger und angenehmer gemacht. Vielleicht kann sie es später wieder für sich alleine wertschätzen, wenn der Schmerz über den Verlust der Katze abgeklungen ist.
So kann es kommen, dass ein Tuch nicht irgendein beliebiges Tuch ist, sondern durch seine Besitzer und ihre Gefühle zu etwas Besonderem wird.
Ich bedanke mich fürs Lesen dieser Geschichte. Vielleicht habt Ihr auch schon einmal so ein besonderes Stück gefertigt? Dann schreibt das hier gerne auf. Oder hinterlasst einen kleinen Kommentar, wenn Ihr mögt.
Herzliche Grüße von Ina
PS. Das auf den Fotos ist natürlich nicht Sabine*, sondern nur meine immer streng dreinschauende Schaufensterpuppe. Aber ich dachte mir, Ihr wollt das "besondere Tuch" gerne sehen.